01.10.-31.10.

tingles & clicks

Interactive Online 3D Sound Experience

Schutzmaske tragen, Sicherheitsabstand einhalten, soziale Kontakte reduzieren und so weiter. Die Social-Distancing-Anweisungen haben uns von Anfang an durch diese globale Gesundheitskrise begleitet. Zwischenmenschliche Berührungen werden zugunsten des Schutzes des Individuums zurückgedrängt. Tingles & Clicks will diese verlorene Körperlichkeit in Auftragsarbeiten, für die herausragende Musiker*innen und Musiker quasi-taktile Erlebnisse schaffen, erforschen und aufleben lassen.

Interaktive Klangarbeiten von Natasha Barrett, Andrea Sodomka, Marco Donnarumma, Svetlana Maraš, kӣr, Ulf Langheinrich und Cam Deas.

Inspiriert von einer Musizierhaltung des minimalen und abstrakten Klanggebrauchs, der Verwendung von Field Recordings und mit Blick auf die ASMR-Bewegung (Autonomous Sensory Meridian Response) entstehen extrem räumliche und intime Hörerfahrungen an jenem Ort, an dem sich die meisten Menschen zuletzt vorwiegend aufgehalten haben beziehungsweise aufhalten mussten: innerhalb der eigenen vier Wände. Mit Computer, Webcam und Kopfhörer kann jede*r in interaktive auditive Ein-Personen-Erlebnisse eintauchen.


Ab gehts

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Arbeiten

Beachcomber
Natasha Barrett

Vor vielen Jahren, als die Aufnahme- und Kompositionstechnik noch der analogen Welt entstammte, gingen die filigranen Klänge, die ich als Teenager einzufangen versuchte, im Grundrauschen unter. Ich erinnere mich noch, wie ich die Klänge einer einsamen Bucht erforschte und dabei ungestört meiner Beschäftigung nachgehen konnte, weil das Meer viel zu kalt war, als dass jemand an den Strand gekommen wäre. Meine Aufnahmen und musikalischen Ideen gingen dennoch kaum über das analoge Rauschen meines technischen Equipments hinaus, so wie sich heute meine Erinnerungen an diese Orte in den hunderttausend Ereignissen der eigenen Vergangenheit verlieren.

In meinem interaktiven Werk für das musikprotokoll 2020 bin ich zu diesen schlichten Klängen zurückgekehrt, habe sie jedoch neu interpretiert, ihnen digitale Aromen beigemischt und sie auch näher herangeholt, um Areale jenseits des Ohrs zu stimulieren. Wer dieses akustische Strandgut aufliest, kann sich selbst finden, die eigene Geschichte erzählen und die eigene Wahrnehmung prüfen und erforschen:

Die Wellen werden dich forttragen,
die Wellen werden dich zurückbringen,
früh im Morgengrauen,
spät in der Abenddämmerung,
den Klängen nachspüren, auf die andere nicht achten,
Seepockenborsten,
Herzmuschelklappen,
eine Wildblume, eine Biene, eine Welle, ein Glas, ein scharfkantiger Stein, grobkörniger Sand, über den der Wind streicht.
Natasha Barrett, Übersetzung: Friederike Kulcsar


Tiefblau und Kristallweiß – Die Farben der Distanz
Andrea Sodomka

Verbotene Reisen, abgesagte Konzerte, keine Studioproduktionen, keine Musiker/innen, um neue Klänge zu finden.

Die Sehnsucht nach dem Meer: aber alle Yachthäfen der Welt sind geschlossen.

So vieles verloren, nur die Erinnerungen und Träume bleiben.


Ich reise mit dem Klang vergangener Reisen an imaginäre Orte und in geträumte Welten.


In Videokonferenzen Kontakt zu Freund/innen halten, ein bisschen Klang improvisieren, Ideen austauschen, es ist nicht wirklich befriedigend. Die Sehnsucht nach draußen, der Welt, dem Austausch, der Berührung bleibt bestehen.

Irgendwie ist der Anker in der Realität verloren gegangen, der Ankerpunkt hat sich verschoben.

Aber arbeite und kommuniziere und empfinde ich nicht eigentlich ohnehin in der virtuellen Welt?


Wenn ich das Fenster aufmache:

Stille, kristallklar wie knisterndes Eis. Kaum Geräusche, die von außen hereindringen, keine Flugzeuge, wenig Autoverkehr. Kein Kindergeschrei vom Spielplatz.


Auf dem Weg in mein Studio bin ich allein in der U-Bahn. Sogar während der Rushhour am zentralen Umsteigebahnhof nur fünf Menschen. Ein Gitarrist mit Schutzmaske erobert den frei gewordenen Platz der U-Bahn-Konzerte und spielt für sich allein.

Wo seid ihr alle? Dunkel kommt die Angst: werde ich für immer allein sein?

Eine verlorene Stadt, eine Stadt zwischen den Zeiten, eine Stadt im Zwischenraum.


Ein fremdartiges, nie gehörtes Klangbild. Nur die Natur klingt gleich, aber lauter.

Andrea Sodomka


Inanis
Marco Donnarumma

Dieses Raumklangstück, das den bezeichnenden Titel Inanis (lat. für „leer“ oder „gehaltlos“) trägt, wurde von der auditiven Erfahrung des Nicht-Hörens inspiriert und thematisiert die technologische Vermittlung von Wahrnehmung. Ausgehend von Donnarummas schwerem Hörverlust, will uns seine Komposition in die Leere des Ungehörten führen. Was nicht gehört wird, ist nicht abwesend: stur und zurückgezogen existiert es in einer sensorischen Dimension, die nicht zugänglich ist, jedenfalls nicht für jeden. Allerdings trifft das auch auf außerkörperliche, halluzinatorische und mystische Erfahrungen zu. Es geht nicht darum, ob ein Phänomen existiert, sondern wie man sich Zugang verschafft.

Inanis besteht in zwei Klangformen, die voneinander abhängig sind, und der Leere, die sich dazwischen auftut und mit technologischen Mitteln erfahrbar gemacht wird. Die eine Klangform ist das Stück, wie es der Künstler mit bloßem Ohr hören würde, also bei einer bestimmten Art von Hörverlust; die andere ist die mit Donnarummas Hörgerät bearbeitete und reproduzierte Komposition, das heißt eine rechnerische Annäherung an die Frequenzen, die er ohne Hilfsmittel nicht hören kann. Was akustisch wie auch konzeptuell zwischen diesen beiden Klangformen liegt, ist die Leere, die Lücke, das Loch, das Ungehörte, das dennoch von anderen gehört werden kann. Gibt es diese Leere ‒ und wo?

Medien: Hörgerätaufnahmen, erweiterte Bassgitarrentechniken, Field Recordings, analoges Feedback Mixing and Dubbing

Mastering: Daniele Antezza im Dadub Studio
Marco Donnarumma, Übersetzung: Friederike Kulcsar


GRÜN GELB
Ulf Langheinrich

Das Material für diese Arbeit ist großteils 2017 bei vielstündigen nächtlichen Arbeitssessions in einem Standard-Environment entstanden. Dieses bestand aus den parallel und über ein Keyboard angesteuerten Synthesizern Roland-MKS80, Oberheim OB-MX, Jomox SUNSYN und Alesis ANDROMEDA-A6.

Mikrotonalität in der Skalierung der per Keyboard aufgerufenen Grundtöne ist der Verteilung von Frequenzen in den Sounds der jeweiligen Instrumente letztlich analog. Aus diesen verschieden driftenden Ebenen entsteht ein Gesamtklang. Er entsteht in einer Soundentwicklungs-Improvisations-Komposition als Gemenge und als vom Autor farbig erlebtes Feld (grün-gelbe Töne, was sehr ungewöhnlich ist), ohne zeitlich und räumlich diskrete Objekte. Eigenschaften oder, besser, Anmutungsqualitäten dieses Feldes sind etwa Viskosität, Temperatur, Dichte oder Leere, aber auch Homogenität, von bleierner Teigigkeit bis zu Bröseligkeit. Diese Beschreibung versucht auf einer Textebene dem genau-intuitiven Erleben und Gestalten gerecht zu werden. Gestalten ist hier nicht Tun mit dem Ziel etwas voranzubringen, sondern einen Raum zu fluten, darin zu treiben und eigentlich zu versinken.

Dabei unterscheidet der intuitiv improvisierende Zugang nicht zwischen Sounddesign und Komposition. Komposition als Formatierung ist die Brille, durch die etwas aus diesen Sessions sichtbar wird. Dadurch, dass es gehört wird, ist es im Rahmen der präzisen Vorgaben einer als interaktiv intendierten Hörsituation organisiert. Die sich im virtuellen Environment drehenden Köpfe erspähen aber keine Event-Nuggets. Kopfschwenken, das sind hier die endlosen Jaktationen der Kinder der Nacht.

Ulf Langheinrich


L'ampleur du souffle
Svetlana Maraš

Aufgrund der Pandemie sind wir gezwungen, mehr Zeit in unseren privaten Räumen zu verbringen, in Innenräumen, wo uns ständig Mauern die Sicht versperren. Weites, offenes Land, frische Luft und unberührte Natur liegen für die meisten von uns, die wir in der Stadt leben, in unerreichbarer Ferne, dennoch sehnen wir uns danach, haben wir immer noch diese unbestimmte Sehnsucht nach einer Art ultimativen Befreiung. Dadurch rückt unser Raumgefühl in den Vordergrund, es ist in unserem Leben mit einem Mal so präsent, dass wir Alternativen durchzuspielen beginnen, indem wir entweder renovieren und die Möbel umstellen oder vom Reisen träumen. In der Musik ist es dank neuester Technologien und avancierter Kompositionstechniken möglich, rasch zwischen alternativen Räumen hin und her zu wechseln. Indem wir den Raum mit Klang modellieren, können wir eine fiktive Realität erschaffen, die das Ohr fasziniert und den Geist beflügelt, wobei wir die uns umgebenden Wände umgehen.

Atmen bedeutet, einen bestimmten Raum zu aktivieren. Kurze Atemzüge, tiefe Atemzüge, letzte Atemzüge oder lustvolle – jede dieser Atemweisen evoziert natürlich gewisse Bilder und Gedanken. Der Atem ist auch eine Voraussetzung für die Stimme, für das gesprochene Wort. Er ist Ausgangspunkt und Grundlage jeder physiologischen und philosophischen Aktivität und wesentlich für alles, was wir sind und was wir tun. Dennoch ist heutzutage nicht nur unsere Atmung beeinträchtigt: frische, saubere Luft ist zu einer gefährdeten Ressource geworden.

Die Musikalität dieser Konzepte schafft einen Rahmen, den ich mit einer Reihe von sich kontinuierlich verändernden Hörsituationen füllen konnte. Die ständige Fluktuation und Transformation des musikalischen Materials soll das Ohr stimulieren – allerdings nicht dazu, sich anzupassen, es soll vielmehr offen und empfänglich für die inhaltliche Heterogenität sein, wie auch der Geist dazu animiert werden soll, es dem Ohr gleichzutun.

Svetlana Maraš, Übersetzung: Friederike Kulcsar


Listening Heterotopias
kӣr

Wir sind ständig von Tönen, Geräuschen, Sounds umgeben, wir nehmen sie wahr und produzieren sie. Jede Handlung, die wir ausführen oder die auf uns einwirkt, hinterlässt eine Spur, die ebenfalls klangliche Komponenten enthält – nur ein winziger Bruchteil davon wird aufgezeichnet, den Rest versuchen wir zu reproduzieren oder wiederzugeben, indem wir uns auf unser Wissen von geschriebener und mündlich überlieferter Geschichte stützen und viel mehr noch auf unsere Vorstellungskraft verlassen. In unserer Phantasie greifen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander. Es steht uns frei, Subjekte und Objekte ins Spiel zu bringen und mit Sounds zu jonglieren, die von dieser Welt sein können oder auch nicht. Unsere Phantasien können rein privat sein, sie können aber auch mit anderen geteilt werden, sei es als Kunstwerke oder als Werkzeuge zur Schaffung alternativer Realitäten dessen, was wir als objektive Wahrheiten empfinden. Die daraus resultierende Verunsicherung und Ungewissheit lässt uns die Gegenwart (und Vergangenheit) mit ganz anderen Augen sehen und beeinflusst die Art und Weise, wie wir interagieren.

Die Plattform Tingles & Clicks bietet die interaktive Möglichkeit, durch drei verschiedene Klangsektoren, d.h. alternative Realitäten, zu gleiten und dafür sechs verschiedene Klangobjekte zu nutzen, die den Eindruck plastischer Körperlichkeit verstärken sollen. In meinen Listening Heterotopias nehme ich dieses Konzept auf und präsentiere im Hörspiel-Format drei achtminütige Versionen einer nicht näher bestimmten historischen Episode. Die erste erzählt die „wahre“ Geschichte, die zweite zeigt die „Verlierer-Seite“, die dritte ist reine Fiktion. Auf sehr haptische Weise wird symbolisch nachgebildet, wie für uns und von uns Wirklichkeiten konstruiert werden, gleichzeitig soll aber auch vermittelt werden, dass es in der Welt, in der wir leben, keine endgültigen Wahrheiten gibt.

Bane Jovančević (kӣr), Übersetzung: Friederike Kulcsar


Milieus & Rhythms
Cam Deas

Dieses Werk wurde als eine physische Installation konzipiert, in der man sich frei bewegen und verschiedene Klangquellen und Geschwindigkeiten kombinieren kann. Ich wollte einen Raum schaffen, in dem übereinandergeschichtete generative Patterns, die insgesamt ein Chaos wären, miteinander verbunden sind und in dem man via Webcam-Tracking-System bestimmte Verbindungen wählen kann.

Da das Projekt ein simulierter Raum ist, verwendete ich fast ausschließlich physikalisch modellierte Klänge: synthetisierte perkussive Klänge, die sich ähnlich verhalten wie die auf einem akustischen Instrument produzierten und auch dementsprechend klingen. Das Stück besteht aus Schichten von generativen Rhythmen in reiner Stimmung, die sich über acht Minuten aufbauen. Es gibt eine Grundschicht mit einem ununterbrochen fortlaufenden Ton, um das Ganze atmosphärisch einzufärben, alle anderen Schichten laufen in verschiedenen Tempi ab, deren Verhältnisse genauso berechnet werden wie die Intervalle zwischen den Tönen. Daraus ergeben sich unterschiedliche Grade rhythmischer Phrasierung: kleinere Verhältnisse für einfache Intervalle (zum Beispiel 3:2 für eine reine Quinte) erzeugen einen einfachen Polyrhythmus, während komplexere Verhältnisse in Richtung rhythmischer Dissonanz tendieren, sodass man der Struktur eines Musters vielleicht nicht mehr folgen kann, aber weiterhin das Gefühl hat, dass die Patterns miteinander verbunden sind. Würden alle Teile gleichzeitig gespielt, wäre das Stück nicht zu entschlüsseln. Wenn man aber bestimmte Verbindungen kombinieren kann, steht der Erforschung dieser sich überlagernden unterschiedlichen Geschwindigkeiten und der einfachen oder komplexen Muster, die dabei entstehen, nichts im Weg.

Cam Deas, Übersetzung: Friederike Kulcsar



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Credits

Mit Auftragskompositionen von Natasha Barrett, Andrea Sodomka, Marco Donnarumma, Svetlana Maraš, kӣr, Ulf Langheinrich und Cam Deas.

Ein Projekt von ORF musikprotokoll.

Konzept, Produktion: Fränk Zimmer. IEM – Koordination: Robert Höldrich, IEM – Technische Entwicklung: Matthias Frank und Franz Zotter.

Die Komposition von Svetlana Maraš ist im Auftrag von depart.one entstanden.

In Kooperation mit dem IEM – Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz, SHAPE – Sound, Heterogeneous Art and Performance in Europe.

Gefördert durch das Programm »Creative Europe« der Europäischen Union.



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